Adultismus – Wer sind die Bösen?

Schlagwörter: Intersektionalität – Eltern – Kinder – Adultismus – unsere Gesellschaft – Familie

[Meine Lektüre: Erich Fromm (so lala), Arno Gruen (okay), Alice Miller (schon besser), Marshall Rosenberg (dazu komme ich später)]³

Wenn Kinder sehr klein sind, sind sie abhängig von einer Bezugsperson/Bezugspersonen. Sie sind es in physischer Hinsicht, aber auch in emotionaler. Diese Bezugspersonen helfen ihnen idealerweise, ein Sinn für das eigene Ich zu entwickeln, dafür dass ihre Bedürfnisse zählen und wichtig sind und dass sie selbst liebenswert sind. Im Wortsinne: es wert, geliebt zu werden.
Mit zunehmendem Alter vollzieht sich eine Trennung von der Bezugsperson. Wenn die Beziehung funktioniert, ist die irgendwann vollständig: man steht sich als getrennte Personen gegenüber, die die Bedürfnisse der jeweils anderen anerkennen und für ihre eigenen eintreten.
Oft funktioniert es nicht.

Familie wird dennoch als der Nährboden für alles Gute dargestellt. „Blut ist dicker als Wasser“ und all dieser Unsinn. Ich habe jedoch bewusst „Bezugsperson“ und nichts von Eltern geschrieben, denn es besteht keine Notwendigkeit, dass dies (leibliche) Eltern oder ein Mann* und eine Frau* sein müssen. So weit mir bekannt ist, müssen es auch nicht zwei Personen sein oder nicht nur zwei. Was ein Kind aber braucht, ist, wie Alice Miller es nennt, ein*e Zeug*in. Eine Person (oder mehrere), die vermittelt, was ich im ersten Absatz beschrieb. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: das Leben mit leiblichen Eltern garantiert kein*e Zeug*in.

Warum die Einleitung?

Es gibt wenige Themen, die es einer*m so schwer machen können, den Durchblick zu erhalten. Weil die menschliche Psyche zu einem guten Teil daran glauben muss, dass die eigenen Eltern/Bezugspersonen gut waren. Das ist der Grund, warum einige Kinder nicht einfach davonlaufen, wenn sie 18 werden (also die meisten, meine ich), obwohl ihre Familie sie von außen betrachtet furchtbar behandelt haben. – Selbst diese Betrachtung von außen wird oft erschwert, weil man dran gewöhnt ist, „Schrulligkeiten“ in einer Familie eher zu dulden, auch wenn sie zwischen Partner*innen als emotionale oder körperliche Misshandlung eingestuft würden. Unter anderem natürlich auch wegen Adultismus selbst: weil Kindern keine körperliche und seelische Autonomie zugestanden wird.
Was ich sagen will: Familie und besonders Eltern sind in unserer Gesellschaft stark mit Bedeutung aufgeladen, die der Gesundung von vielen Kindern, [edit]die Probleme haben[/edit], im Wege steht und auch die Betrachtung von Adultismus erschwert, weil schmerzhaft macht. („Kinder“ ist hier durchaus als „alle Personen mit Eltern/Bezugspersonen“ gemeint – also auch Menschen weit über 18. Wenn ich von der Betroffenheit durch Adultismus schreibe, spreche ich aber nur von Personen bis 18.)

Heißt es immer Eltern vs. Kinder?

Jein. Auf der persönlichen Ebene haben Eltern¹ tatsächlich eine sehr wichtige Position, die ich oben erklärt habe: das emotionale Wohlbefinden der Kinder hängt von ihnen ab. Aber Adultismus² bezieht sich meinem Verständnis nach vor allem auf gesellschaftliche Strukturen, die Eltern z.B. moralisch in ihrer Machtposition bestärken. Damit meine ich konkret, Entscheidungen „für“ statt mit ihren Kindern zu treffen, ihnen Vorschriften zu machen, ihren Lebensweg bis zur Vollendung des 18. Lebensjahr vorzuzeichnen.
Eltern haben gesellschaftliche Rückendeckung dabei, über das Leben einer anderen Person zu bestimmen.

Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass gesellschaftliche Strukturen stark bestimmen, inwiefern ein Kind anti-adultistisch behandelt werden kann.
Auch Eltern, die ihrem Kind auf Augenhöhe begegnen möchten, müssen der Schuldpflicht nachkommen, können ihre Kinder keine wichtigen Dokumente selbst unterzeichnen lassen, bevor sie volljährig sind, können ihre Kinder nicht wählen schicken usw.

Eine andere Frage ist die nach sich überschneidenden Diskriminierungen der Eltern. Wie wirkt sich das auf die Fähigkeit der Eltern aus, ihr Kind anti-adultistisch zu behandeln? Meiner Meinung nach: so gut wie nicht. Es ist korrekt, dass z.B. Alleinerziehende/Geringerverdiener*innen mit mehreren Jobs schlicht und ergreifend weniger Zeit mit den Kindern verbringen können und gerecht ist das nicht (aus einer gesellschaftlichen Perspektive). Es hat aber keinen Einfluss darauf, wie (sprich: auf welche Art, nicht wie oft) die Eltern mit dem Kind umgehen. Ob sie si:hn an Entscheidungen beteiligen oder ob sie über siren Kopf hinweg entscheiden.
Anklagen wie Rabenmutterschaft und all das fällt zu einem guten Teil unter Sexismus und nicht Adultismus. Oft für das Kind nicht erreichbar zu sein, macht noch keine adultistischen Eltern. Es kann die Eltern-Kind-Beziehung schädigen, aber hier wäre die Schuldigkeit tatsächlich nicht bei Adultismus zu suchen, sondern bei den klassistischen, rassistischen und ableistischen Strukturen unserer Gesellschaft, die den Eltern verwehren, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen.
Jedoch: Kinder werden oft als Anschaffung betrachtet. Man plant sie ins Leben ein und dann sind sie da und man freut sich. Weniger beachtet wird, ob sie etwas zum Freuen haben. Viel zu viele Eltern sind meiner Meinung nach emotional überhaupt nicht in der Lage, damit umzugehen. Kinder als Accessoir oder Haustier? Adultistisch.

Dadurch, dass ich Adultismus mit der Einleitung vermischt habe, habe ich die Themen ein wenig vermengt. Ich weiß nicht, ob es als adultistisch zählt Kinder aufgrund von äußeren Umständen z.B. zeitlich zu vernachlässigen. Dies ist ein Thema für ein andermal, wenn ich vielleicht mehr weiß.

Ich habe noch einige relevante Links durch/von takeover.beta, hoffe aber, die in einem der nächsten Artikel einfügen zu können.

1 …/Bezugspersonen“ bitte ab hier dazudenken
2 Wobei zu beachten ist, dass das Konzept des Adultismus sich stark auf Weiße bezieht. Weiteres bei accalmie. (Warnung Adultismus)
3 Ich habe diese Autor*innen vor 2 bis 5 Jahren gelesen. Ich lese sie, bis auf Alice Miller, gar nicht mehr, aus Gründen.™ Sie stehen nicht da oben, weil ich sie empfehlen will (siehe Klammern), sondern weil ich mir, unter anderem anhand dieser Bücher, eine Meinung gebildet habe. Diese ist im Artikel nachzulesen. Ich kann aber nicht mehr sagen, welche*r Autor*in konkret welche Meinung beeinflusste, daher habe ich sie alle aufgelistet.

Crossposted auf takeover.beta

2 Gedanken zu “Adultismus – Wer sind die Bösen?

  1. ich habe diesen kommentar vor ein paar tagen getippt und bis jetzt noch nicht abgeschickt. jetzt habe ich mich dazu entschieden, ihn doch abzuschicken, weil ich eine menge fragen haben.

    ich frage mich bei dieser debatte schon die ganze zeit: wo bleibt die intersektionale analyse? wo bleibt eine gesamtgesellschaftliche und diskriminierungssensible brille was sorgearbeit angeht (wer sie leistet, wer sie leisten darf (!!)…)?

    wenn ich sätze lese wie:

    „Ich weiß nicht, ob es als adultistisch zählt Kinder aufgrund von äußeren Umständen z.B. zeitlich zu vernachlässigen“

    oder

    „Familie und besonders Eltern sind in unserer Gesellschaft stark mit Bedeutung aufgeladen, die der Gesundung von vielen Kindern im Wege steht und auch die Betrachtung von Adultismus erschwert, weil schmerzhaft macht.“

    habe ich tausend fragezeichen im kopf:

    sind alle kinder gleich sozial positioniert? sind alle eltern gleich sozial positioniert? stichwort: intersektionale analyse?
    was heißt „gesundung“ von kindern? sind sie alle „krank“? was soll hier „gesund“ und „krank“ in diesem kontext??
    wer leistet in dieser gesellschaft sorgearbeit (und wird somit auch mit dieser bisher undifferenzierten debatte an den pranger gestellt?)
    wer profitiert von dieser debatte, wer muss sich mit schlechten gewissen erklären? sind es die vielen väter, die oftmals keine sorgearbeit übernehmen (wollen) oder sind es die vielen alleinerziehen (groß-)mütter, die ohne große staatliche unterstützung diese arbeit zum großteil erledigen? stichwort: reproduktion von sexistischen zuschreibungen wie „rabenmutter“.
    wieso übertrumpft adultismus andere unterdrückungsverhältnisse?
    wieso werden hinweise, dass die art und weise, wie adultismus-debatten geführt werden, weiße dominanzstrukturen reproduziere, in einer fußnote erwähnt, als wäre es nur… ja: eine fußnote? stichwort: intersektionale analyse?
    wieso wird im adultismus-diskurs kaum eine möglichkeit geschaffen, kinder zu beteiligen/sprechen zu lassen? welche sprache kann genutzt werden, damit alle verstehen, wovon gesprochen wird (stichwort: adultistische sprache).
    wieso wird nur über (das verhalten von) eltern diskutiert, aber nicht mit ihnen? wo sind die stimmen derjenigen, die sorgearbeit leisten?
    wo gibt es den theorie-praxis check? was können wir tun, um anti-adultistische arbeit zu leisten, was klappt, was ist schwierig? und wieso wird nicht darüber diskutiert (sondern ständig impliziert wird, dass eltern irgendwie nur scheiße bauen)?
    inwiefern wird bedacht, dass sorgende unterschiedliche ressourcen haben, um sorgearbeit zu erfüllen? können nur eltern mit viel zeit & geld und wenigen nöten anti-adultistisch agieren? reproduziert das nicht krasse klassistische und ableistische strukturen?

    und zum schluss ein eher genereller punkt:

    wer wird hier eigentlich als expert_innen zitiert?

    Erich Fromm
    Arno Gruen
    Alice Miller
    Marshall Rosenberg

    seriously? sprechpositionen, anyone?

    1. Dieser Kommentar ist absolutes Derailing, aber ich lasse ihn (das heißt einen solchen) einmal (!) zu, um das klären zu können: die Fragen sind wichtig. Die Fragen sind zu klären. Aber ich habe nicht vor sie in einem Kontext zu besprechen, in dem ich versuche mich für die Position von Kindern einzusetzen. Ich sehe dann nämlich nicht mehr, wo Intersektionalität aufhört und Adultismus anfängt. Das ist absurd.

      Zu den „Expert_innen“: siehe Fußnote.

      Zu der Andersbehandlung von z.B. schwarzen Kindern: du hast völlig recht, das Thema ist wichtig. Da ich zu dem Thema noch nicht viel weiß, habe ich mich für den imperfekten Mittelweg entschieden, darauf hinzuweisen und erst einmal über das zu schreiben, zu dem ich mir bereits eine Meinung gebildet habe.

      Es besteht die Möglichkeit, dass ich auf einige andere deiner Fragen noch einmal näher eingehen werde. Aber ich lade auch alle, die wie du nicht verstehen, was mein Fokus soll dazu ein, ihre eigenen Meinungen niederzuschreiben. Was bei mir momentan größtenteils ankommt ist: denke doch wer mal an die Eltern! Denen qua Gesellschaft eine Machtposition verliehen wird. Ich bin gerade an einer Stelle, an der ich an die Kinder denken will.

      Edit: Die Beteiligung von Kindern an der Diskussion ist eine wichtige Frage, die bei mir offensichtlich bis jetzt auch unter den Tisch gefallen ist.

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